Die Verbaukastelung der Welt, oder: Geometrische Frustration

Nachdem wir bereits über Muster und Methoden ansatzweise nachgedacht haben, beginne ich heute mit einer ganz kurzen Beschreibung des modularen E-Antriebs-Baukasten (MEB) der Volkswagen AG. In diesem Baukasten wird die Antriebsbatterie des Kraftfahrzeugs zwischen den Achsen im Unterboden platziert. Die Elektro-Motoren werden an die Vorder- und / oder Hinterachse gesetzt. Auf diesen Baukasten können dann unterschiedlichste Karosserie-Designs aufgebaut werden. Das ist alles sehr praktisch und es erlaubt eine kostengünstige Durchvariierung des Themas ›Auto‹. die Modulbauweise finden wir heute nicht nur beim Bau von Automobilen, auch bei der Fertigung von Häusern, Fabrikanlagen, Schiffen, Operationssälen, Bibliotheken, Weltraumlaboratorien, Implantaten, Werkstätten, Maschinen, Apparaten, elektronischen Klangerzeugern, Möbeln, Spielzeug, Forschungsfragen u.v.a.m. verfährt man auf ähnliche Weise. Ein Blick in das Baukastensystem der Natur zeigt schließlich, daß auch der Genotyp der Gattung ›Mensch‹ eine Art modularen Aufbau hat. Trotz aller Einförmigkeit fällt das Individuum, als Phänotyp, dann sehr unterschiedlich aus.

Übertragen auf unser Thema (Kunst, Gestaltung, Design) erkennen wir nun Spielräume und kreieren auf alle denkbaren Weisen besondere oder sonderbare, wunderliche oder wunderbare Ideen. Der unvermeidbaren Verbaukastelung der Welt können wir gelassen entgegensehen, wenn wir verstanden haben, daß es nicht (mehr) um die eilige Perfektionierung von Ideen geht. Heute geht es eher darum, die Idee der Perfektibilität zu transzendieren. Schon 1755 hat der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau über die Perfektibilität spekuliert und die Paradoxie erkannt, dass diese eben nicht nur die Möglichkeit der Verbesserung, sondern auch eine Option der Verschlechterung oder Degeneration beinhaltet (siehe: Discours sur l’origine de l’inégalité parmi les hommes).

Erkennen wir also in der Perfektion die Grenzen menschlicher Selbstwirksamkeit? In der Physik beschreibt man Abweichungen von der prinzipiell denkbaren Totalordnung übrigens als ›Geometrische Frustration‹. Sie handelt davon, daß es immer Kräfte gibt, die in Konflikt zueinander stehen und die absolute Minimierung störender Wechselwirkungsenergien verhindern. Die totale Ordnung ist selbst in der Physik nur eine theoretische Figur.

Vielleicht ist es ja eine nützliche Haltung für die Entwerfer*innen, loszulassen, wenn es zu fest wird und rechtzeitig zu zügeln, bevor das Gefüge auseinanderfliegt. Sollten sie sich übrigens mit musikalischen Experimenten beschäftigen (oder sollten sie den künstlerischen Prozess eh als eine Art Kompositionsverfahren auffassen), dann empfehle ich Ihnen wärmstens das Buch von Hans Schneider über experimentelles Musizieren und Komponieren.

Perfektibilität | Korruptibilität

Schneider, H. (2017). Musizieraktionen. frei streng lose. 
Anregungen zur Vermittlung experimenteller Musizier- und Komponierweisen. 
Friedberg: Pfau.

Bild: James D. Watson (links) und Francis Crick, 21. Mai 1953, Cambridge
© Anthony Barrington Brown, Nature 421: 417, 2003
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