Entschulung, unsystematisch gedacht …
Es ist eine Tatsache oder gar eine Wahrheit, daß sich ›lebende‹ Systeme (gleich welcher Art) selbst hervorbringen können. Kleine Abwandlungen sind dabei unvermeidlich und auf die lange Sicht von größtmöglicher Wirkung (Evolution). Für mich persönlich absehbar ist es, daß ›Rosen aus Rosen‹ und ›Menschen aus Menschen› hervorgehen. Humberto Maturana und Francisco Varela haben dieses biologisch-kybernetische Prinzip lebendiger Systeme als ›Autopoiesis‹ bezeichnet (1973).
Jedes einzelne lebende System bringt sich selbst als energetischen und biologischen Wertstoff in das Universum ein (incl. der Verfallszeiten), es produziert darüber hinaus gewisse kulturelle Wertstoffe. Kultur ist damit nichts anderes als eine Art (unvermeidbarer) Nebeneffekt jeder lebendigen Existenz und auch auch sie (die kulturellen Wertstoffe) haben ihre Verfallszeit. So kann der Damm eines Biebers sehr lange bestehen, viel länger als die erschaffende Kreatur selber lebt und so können dingliche Erzeugnisse, Sprachen oder Techniken eine sehr lange Zeit ihre Schöpfer*innen überdauern. Und ebenso natürlich erscheint es uns, daß sie ihre Form (und ihren Zweck) verändern oder an die neuen Umstände anpassen.
Das besondere an diesen kulturellen Wertstoffen ist, daß sie all diejenigen Eigenschaften inkorporieren, die ihren ursächlichen Schöpfer*innen eigen sind. Es ist damit gesagt, daß jede lebendige Kultur natürlicherweise dahin strebt, sich eines Tages selbstständig zu verfertigen. Wir werden wahrscheinlich niemals Bieberdämme erleben, die Bieberdämme erbauen und wir werden keine Autos erleben, die Autos bauen. Aber, ganz allgemein gesprochen, wir werden in ferner Zukunft eine Technik erleben, die sich selbstständig (autonom) weiterdenkt. Diese Prognose ist angesichts des heute schon Möglichen nicht allzu gewagt.
Es geschieht, sobald das lebendige Leben in der Lage ist, jene elementaren Vorgänge zu verstehen, die lebendig sind. Unsere Schulen und Hochschulen sind Teil unseres Bildungssystems, das diesen prinzipiellen Gedanken systematisch weitertreibt. Zu diesem Gedanken kam ich bei der Lektüre von Ivan Illich und seinem Text über das ›Verlernen‹ (aus dem 1970 erstmalig erschienenen Buch ›Unschooling Society‹). Illich schrieb: “Eine Gesellschaft, die sich der Institutionalisierung von Werten verpflichtet fühlt, identifiziert die Produktion von Gütern und Dienstleistungen mit der Nachfrage nach denselben. Die Schulung unserer Bedürfnisse nach diesen Produkten ist im Preis der Produkte inbegriffen. Die Schule (oder auch Universität) ist die Werbeagentur, die uns glauben lässt, dass man die Gesellschaft genau so braucht, wie sie ist.”
“A society committed to the institutionalization of values identifies the production of goods and services with the demand for such. Education which makes you need the product is included in the price of the product. School is the advertising agency which makes you believe that you need the society as it is.” Illich, I. (1970). Deschooling Society. Retrieved from: davidtinapple. Zuletzt besucht am 5. April 2019.
Es stellt sich die Frage, ob dieser Befund richtig ist und ob unsere Schulen und Universitäten genug auf ein ›Leben in der Gegenwart‹ eingehen. Wenn wir unser Leben ausdrücklich nicht auf eine immer ferne Zukunft ausrichten wollen, dann müssen wir diese Frage mit Nachdruck behandeln. Dazu schrieb Martin Heidegger in “Was heisst Denken?”: “„Wir nähmen die Sache zu leicht, wollten wir meinen, die Herrschaft des eingleisigen Denkens entstamme der menschlichen Bequemlichkeit. Das immer weiter und in verschiedenen Formen um sich greifende eingleisige Denken ist eine jener erwähnten unvermuteten und unauffälligen Herrschaftsformen des Wesens der Technik, welches Wesen nämlich die unbedingte Eindeutigkeit will und sie deshalb braucht.“
In: Heidegger, M. (1954). Was heisst Denken. Frankfurt am Main. S.28